Der Wahnsinn dieses Sommers...
Wenn unser Baby-Boom-Post das letzte für lange Monate ist, lässt das tief blicken. Nein, wir haben nicht die Flucht ergriffen und uns allesamt auf die Malediven abgesetzt. Vielmehr deaktivierten wir unsere Smartphones, Tablets, Laptops und sonstige Verbindungen zur Außenwelt, hörten auf als soziale Wesen zu existieren, krempelten die Ärmel hoch (nur im übertragenen Sinne – es war ja viel zu heiß!) und tauchten ab in die Nonstop-Versorgung von bis zu 350 Mauerseglern gleichzeitig. Da blieb auch Facebook auf der Strecke, Füttern war wichtiger. Schlafen wurde ab sofort als entbehrlicher Luxus eingestuft, beim Essen orientierten wir uns an unseren Pfleglingen und schlangen hastig herunter, was wir finden konnten - Fast Food im wahrsten Sinne des Wortes. Die Telefone wurden auf Anrufbeantworter umgeleitet, weil es unmöglich ist, im Akkord zu füttern und gleichzeitig zu telefonieren. Um dennoch hilfesuchenden Findern und sonstigen Anfragen gerecht zu werden, saß eine Mitarbeiterin im Homeoffice und bearbeitete 24/7 unermüdlich eingehende Mails. Der Wahnsinn dieses Sommers ist unvorstellbar und kann niemandem vermittelt werden, der es nicht selbst erlebt hat. Alle anderen glauben uns das nicht.
Schwere Zeiten für verletzte und rekonvaleszente Altsegler, die umringt von Babyboxen förmlich untergingen. Das permanente Babygezirpe setzte ihnen sichtlich zu. Und war für einige vielleicht quälend, die eigene Junge gehabt hatten und nun hier festsaßen. Ebenso litten unsere Vorjährigen, die nach dem letzten Winter ruhigere Zeiten gewöhnt waren und jetzt dem täglichen Megastress, der nicht endenwollenden Babyflut und der Verzweiflung unserer völlig überarbeiteten Mitarbeiter ausgesetzt waren. Bis in den Juni hinein gelang es uns noch, vereinzelte Schift-OP’s durchzuführen, neben Fütterungszeiten von 7 Uhr früh bis 3 Uhr nachts. Am 26. Und 29. Juni starteten die letzten geschifteten Vorjährigen, Lucinde und Felicitas aus Berlin. Danach hieß es nur noch: Rien ne vas plus! Ohnehin hatten die meisten verbliebenen Vorjährigen nun ihre Mauser begonnen, wie z.B. unsere 3 polnischen Pfleglinge Lianna, Katalin und Theon. Das bedeutete warten bis zum Winter. Nämlich bis jetzt: Lianna wurde vorgestern geschiftet, Katalin gestern, heute die Vorjährigen Neo und Kalyan, - wir bereiten uns auf die nächste Verfrachtung in den Süden vor!
Doch zurück zum Sommer. Kaum je wird ein Tag so sehr herbeigesehnt wie der, an dem der erste Jungvogel startet. Tindaya erfüllt uns am 7. Juli diesen Wunsch. Und…? Am selben Tag treffen 14 neue Patienten und am nächsten 22 Babys ein. Am Tag drauf sind es 13, dann 14, - und wieder startet ein Juveniler, Leonidas. 18 Neue am nächsten Tag, und 2 Starter – Zira und Leonara. Das In-Out-Verhältnis steht eindeutig zu unseren Ungunsten. Erst am 16. Juli beginnen die Massenstarts, die unseren Pegel von 341 Seglern binnen 17 Tagen auf 212 Segler senken. Am 24. Juli ist unser erstes Baby dabei, Fiamma, die im Alter von 2 Tagen zu uns kam! Nun erobert sie als eleganter Flugkünstler die Lüfte. Gleichzeitig steigen die Neuaufnahmen wieder an. Nun kommen verunglückte Jungsegler, deren Jungfernflug durch unerwünschte Begegnungen mit Hochspannungsleitungen, Greifvögeln, Fensterscheiben, Autos, Bäumen, Mauern und Balkonen ein unschönes Ende fand. Dann kapriolt auch noch das Wetter und bringt uns eine Welle flügger, völlig untergewichtiger Jungsegler. Diese schwierigsten und undankbarsten aller Patienten sind nur am Toben und Grillenkotzen und denken gar nicht daran, in irgendeiner Weise zu kooperieren. Unsere Erschöpfung erreicht ihren absoluten Tiefpunkt. Und dennoch, als nachts um elf ein Segler am Henningerturm gemeldet wird, macht sich eine taffe Mitarbeiterin bei strömendem Regen mit dem Fahrrad auf den Weg, um ihn zu holen, - und bringt uns Kajus, einen weiteren halbverhungerten Kampfzwerg. Wir können eben nicht anders.
Als die Hungergewichte nach langwierigen zähen Auseinandersetzungen endlich auf Startgewicht gebracht sind, erfreuen wir uns in der zweiten Augusthälfte an einer Reihe schöner Starts. Die Freude findet ein jähes Ende, als wir den Tod eines unserer Schützlinge durch einen Turmfalken mitansehen müssen und wenig später einen startenden Jungsegler durch einen Sperber verlieren. Wir wechseln abermals den Startplatz, doch fortan ist die Angst unser ständiger Begleiter.
Im September steigt der Zeitdruck: Wie viele Starts kann es noch geben, ehe es zu kühl und unwirtlich wird? Wir beginnen wieder mit dem Schiften, insbesondere kleinere Reparaturen wie Steuerfedern und einzelne Schwungfedern. Der Fokus liegt auf dem Bestreben, so schnell wie möglich so viele Segler wie möglich an den Himmel zu schicken. Im September gelingen uns noch 8 Starts: Freiheit für 52 Mauersegler! Am 2. Oktober starten dann die letzten von Frankfurt aus: Athina, Floriander, Emilia und Asha. 126 Segler verbleiben in der Klinik, und wie viele noch in den Pflegestellen warten, daran mögen wir gar nicht denken.
Wir schalten mental um auf Herbst-Winter-Betrieb. Die Mitarbeiter dürfen ihre Handys und sonstigen elektronischen Geräte wieder in Betrieb nehmen. Hurra, wir leben noch! Unser nächstes Ziel ist die erste Verfrachtung am 6. November. Die Gefiedersanierungen beginnen, es wird mit Hochdruck geschiftet, und wir schaffen es, bis zum Reisetag eine Gruppe von 15 Segler zusammenzustellen. Unter dem sonnigen Kanarenhimmel starten am 8. November die Vorjährigen Octavian, David, Kewpi und Tonia sowie die Jungsegler Faivish, Edda, Peter, Wendy, Toby, Nefertari, Meera, Arry, Jordi, Tom und Petri.
Jetzt werden wir uns von einer Verfrachtung zur nächsten hangeln. Kurz vor Weihnachten, wenn normale Menschen Geschenke einkaufen und den Christbaum schmücken, machen wir uns wieder auf den Weg in den Süden mit dem schönsten Geschenk von allen: Freiheit für 14 unserer Mauersegler – und für den Alpensegler Laurelin!