Bei den meisten Mauerseglerkindern, die in unserem Waisenhaus anlanden, ist der Start ins Leben echt mies verlaufen. Sie wurden durch mörderischer Hitze zum Sprung in die Tiefe gezwungen, sind hinter Baugerüsten eingeschlossen worden, so dass ihre verzweifelten Eltern nicht mehr zu ihnen gelangen konnten, wurden bei Sanierungsarbeiten rücksichtslos aus ihren Nestern gerissen, sind bei anhaltend schlechtem Wetter fast verhungert, sie haben hilflos und verängstigt am Boden gesessen, sind von Beutegreifern schwer verletzt worden, - lang ist die Liste der Schicksalsschläge und Missgeschicke, die jungen Mauerseglern widerfahren können. Henry hat sowas auch hinter sich. Was genau ihn raus aus dem elterlichen Nest und hinein in menschliche Hände befördert hat, das wissen wir nicht. Sein Outfit – abgebrochene Schwungfedern, fehlende Steuerfedern, bröselndes Körpergefieder – lässt gewisse Vermutungen zu. Hitze dürfte eine Rolle gespielt haben, vielleicht auch Fehlernährung. Und wer hat ihm die Schwanzfedern ausgerissen? Zwei- und vierbeinige Täter kommen in Frage. Darüber schweigt Henry sich aus. Ansonsten ist er äußerst gesprächig. Selten haben wir einen Segler mit einem derartig umfangreichen Repertoire an Lautäußerungen erlebt, und selten hatte einer so viel Spaß daran, sie uns zu präsentieren. Henry hört auf seinen Namen und antwortet umgehend. Jeder Pfiff wird kommentiert. Jede Grille mit frenetischem Zirpen inhaliert. Menschliche Zuwendungen werden ausdauernd besungen, crescendo und decrescendo beherrscht Henry perfekt und lässt keine Gelegenheit aus, durch herzrührige Arien, kombiniert mit kleinen Sporteinlagen (Flattern, Hopsen, Kratzen...), auf sich aufmerksam zu machen. Genau hier liegt auch das Problem. Uns gegenüber schnurrt Henry wie ein Kätzchen und gefällt sich als Kasperle, Entertainer und Kuscheltier in Personalunion, anderen Seglern gegenüber jedoch mutiert er zum kreischenden, flügelschlagenden Ungeheuer und schlägt jeden potentiellen Partner in die Flucht. Danach rettet er sich zeternd auf meine Schulter, mit den bekannten Folgen für meinen Pullover. Man muss dazu sagen, dass Henry aufgrund seiner beklagenswerten Vorgeschichte bei uns einige Nachsicht genießt. Bevor Henry zu uns kam, befand er sich längere Zeit in privaten Händen. Eines Tages verschwand er aus seiner Box. Wie, ist ungeklärt. Uns gegenüber äußerte man später lapidar: „Wir dachten, der Hund hätte ihn gefressen.“ Hatte der aber nicht. Nach zwei langen Tagen wurde Henry halb verhungert im Keller wiedergefunden und wenig später mit nur 28 Gramm an uns überwiesen. Er brauchte Wochen, um sein Kellertrauma zu überwinden. In diesen Wochen zog er alle Register stimmgewaltiger Kommunikation, war bis in den hintersten Winkel der Klinik zu hören, wenn er Grillen und persönliche Betreuung einforderte, fraß sich in Windeseile fast 50 Gramm an und verbrauchte 1-2 Pullover pro Tag. Allmählich ist uns recht dringlich daran gelegen, nun doch endlich einen Partner für Henry zu finden, um ihn von uns sowie übermäßigem Grillenkonsum abzulenken. Die Quadratur des Kreises ist nichts dagegen! Unsere meisten Segler sind glücklich verpartnert, und die wenigen, die es nicht sind und schon mal ausprobiert wurden, ergreifen bei Henrys Anblick die Flucht. Doch dann kommt Aleardi. Ein U-Boot-Segler, was bedeutet, sie ist plötzlich aufgetaucht. In Freiburg nämlich, wo sie sich längere Zeit in privater Pflege befand. Aleardi ist schmuck, selbstbewusst und mit einer kräftigen Stimme gesegnet. Wir quartieren sie in der Box neben Henry ein und harren der Dinge, die da kommen. Zunächst kreischt man durch das Plexiglas ausgiebig hin und her, doch keiner gewinnt die Oberhand, und so mündet das Ganze schließlich in eine Art Duetting. Anschließend starrt man sich ausdauernd an, und auch jetzt gewinnt niemand. Wir wagen eine erste Zusammenführung. Beide sind sehr aufgeregt (wir auch!). Henry nähert sich dem Eindringling. Doch siehe da – die Mutation zum Ungeheuer bleibt aus. Kein Geschrei und keine Drohgebärden. Als Henry unsanft in Aleardis Nackengefieder herumzoppelt, wissen wir, dass wir schon fast gewonnen haben. Es dauert noch 3 Tage, dann darf Aleardi jeden von Henrys Lieblingsplätzen aufsuchen und sogar mit ihm zusammen in seine Höhle kriechen. Man übernachtet jetzt auch gemeinsam. Krault und putzt sich gegenseitig und hat sich viel zu erzählen. Es ist allerliebst anzusehen. Grillen sind nur noch zu den Fütterungszeiten leidlich interessant. Auf meiner Schulter herumkraxeln ist Schnee von gestern. Ich laufe endlich wieder mit sauberem Pullover durch die Klinik. Es geht nichts über Partnervermittlung bei Mauerseglern!