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Winterruhe nicht inbegriffen
Monday, 18. November 2024 12:47

Trübseliger könnte der November kaum sein. Griesgrämig, nasskalt und grau präsentiert er sich, dunkler von Tag zu Tag, und dass Amazon seine Päckchen schon mit Weihnachtsklebeband verschickt, lässt die Stimmung in düsteren Untiefen versumpfen. Winter is coming.

 

Lautstarke Screaming-Party in der Mauerseglerklinik! Hier hat der Sommer ein paar Dutzend seiner Boten schlichtweg vergessen. Anstatt über Afrika an der innertropischen Konvergenzzone entlangzuflitzen und Moskitos das Fürchten zu lehren, haben sie sich, pärchenweise oder zu dritt, mit Reihenhausboxen und Fastfood arrangiert. Die Jungsegler haben die oberen Etagen inne. Hier sind die Boxen zwar kleiner, bieten aber den besseren Aus- und Überblick. Insbesondere die Kontrolle des Personals ist gewährleistet. Man kann beobachten, ob das Fastfood – Teller um Teller voller schmackhafter Grillen – schnell genug angereicht wird. Wenn nicht, muss man warten. Da nutzt weder Kratzen noch empörter Protest, irgendwie sind andere immer zuerst dran.

 

In den unteren Reihen leben „die Vorjährigen“ und die Altsegler in den begehrten großen und üppiger ausgestatteten Apartments. Wilde misslaunige Gesellen und finstere, tragische Existenzen, denen man besser nicht in die Quere kommt, wenn einem das Leben lieb ist. Jungsegler Joringel aus Box Rot 2 kann ein Lied davon singen, der ist letzte Woche in die Behausung der Vorjährigen Fairy und Wolverine gefallen und von letzterer übel attackiert worden. Wolverine ist furchterregender als ein Drachen und kennt kein Pardon. Jammernd und blutend wurde Joringel vom menschlichen Pflegepersonal gerettet, medizinisch versorgt und 5 Tage lang gepiekst, weil laut Tierärztin ein Antibiotikum erforderlich war. Von Partnerin Jorinde gab’s außerdem noch eine Gardinenpredigt, und nun ist Joringel erstmal wieder sehr häuslich und sinnt nicht mehr auf Ausbruch.

 

Heute ist die Gemeinde extrem aufgeregt, denn 9 Neuzugänge aus Frankreich sind eingetroffen und sorgen für kontroverses Srii-Sriii. Mehrere Youngsters, die ungeduldig auf neue Federn warten, sind der Ansicht, man – scheeler Blick zur Tierärztin! – solle sich erstmal um den eigenen Bestand kümmern, bevor man schon wieder Neue kommen lässt. Die Vorjährigen teilen ungehalten mit, dass sie Fremde weder mögen noch wollen, wobei sich Nami tunlichst der Stimme enthält. Auf ihrem ID-Kärtchen steht als Herkunftsort nämlich F - St. Cezaire-sur-Siage. Den Altseglern ist es egal, sie sind deprimiert und verbittert, weil sie immer noch hier festsitzen. Einige zischen dem Jungvolk zu, sich ruhig zu verhalten, und verschwinden wieder in der Tiefe ihrer „Garagen“. Der berühmte Hardy, seines Zeichens Stubenältester und amtierender Präsident der Klinik, ignoriert die Aufregung ringsum. Er residiert mit seinen jungen Freundinnen Robin und Amaya bequem und dekadent im großen Terrarium vor dem Fenster. Trubel und Unruhe tangieren ihn extrem peripher. Hardy hat schon so viele Segler kommen und gehen sehen, dass ihn nichts aus seinem beschaulichen Alltag aufschrecken kann. Böse Zungen könnten ihn phlegmatisch nennen, dabei schätzt Hardy bloß Ruhe und Gemütlichkeit, einen Handwärmer unter dem Bauch und je eine fesche Seglerin rechts und links.

 

Anders der jüngere Julyan, der in diesem Sommer durch die Produktion von insgesamt 8 Eiern unwiderlegbar unter Beweis gestellt hat, dass Er eine Sie ist. Wir sind von einer Ohnmacht in die andere gefallen. Julyan bewohnt mit ihrem Partner Armany eine der größten Boxen der Klinik, luxuriös ausgestattet, exquisit gelegen, mit unverbaubarem Blick in den Garten. Von unstillbarer Neugierde und Wissbegier erfüllt, ist Julyan allem Neuen gegenüber aufgeschlossen, findet alles interessant und muss alles wissen und kennenlernen. Sie findet sofort heraus, dass drei der Franzosen aus Nizza stammen, was ja noch viel interessanter ist, und dass sie Cybélio, Corin und Melusin heißen. Und dass die Franzosenmenschen Champagner und belgische Trüffel mitgebracht haben. Und lebende Wachsmottenlarven. Sehr interessant!

 

Derweil müht sich das Personal, also wir, damit ab, mit der Fütterung zeitlich im Limit zu bleiben und den komplizierten Neuen gerecht zu werden, denn die sind gestresst, einige krank, und wollen nicht so recht essen. Die Tierärztin – das bin ich! – rennt hin und her und kümmert sich für die neuen Patienten um Infusionen, Antibiotika und B-Shots, reinigt verstopfte Nasen, entfernt fitzeldünne Fäden von angeschwollenen Zehen, beseitigt zu enge Markierungsringe, zupft nadelspitze verklebte Federn aus tränenden Augen und verteilt Euphrasia-Tropfen. Und schon wieder habe ich keinen neuen Federsatz geschafft, die scheelen Blicke der Youngsters sind also berechtigt. Dabei sind in den letzten Tagen Schneewittchen, Diaspora und Sally geschiftet worden, kein Grund also, sich zu beklagen.

 

Morgen steht Altsegler Rienzi auf dem Plan. Endlich ist er bereit zum Schiften! Bei seiner Ankunft am 22. Mai sah Rienzi nicht mehr wie ein Mauersegler aus. Er war von Kopf bis Fuß mit zäher, ölig schwarzer Masse und Dreck verklebt, die mit seinen Federn eine untrennbare Verbindung eingegangen waren. Der Brust- und Bauchbereich konnte nur durch Entfernung des verpappten schmierigen Panzers gereinigt werden. Flügel und Steuerfedern wurden unzähligen Waschungen unterzogen. Irgendwann verschwand der schwarze Klebekram, doch die Federn hatten, milde ausgedrückt, etwas gelitten. Es dauerte viele Monate, bis Rienzis Brust und Bauch sich langsam wieder befiederten. Inzwischen begann seine Mauser. Und wenn nun seine großen Handschwingen geschiftet werden, hat Rienzi reelle Chancen auf ein Flugticket für die Dezemberverfrachtung!

 

Der/die geschätzte LeserIn mag alledem entnehmen, dass in der Mauerseglerklinik weiterhin die Post abgeht. Und zwar keine stille Post! Je stiller es um uns wird, desto stressiger geht es hier zu. Im nicht endenwollenden quälend heißen Sommer sind wir bis weit über unsere Grenzen getrieben worden. Bis zu 380 Mauersegler haben wir gleichzeitig versorgt, definitiv rund um die Uhr. Fast 800 Aufnahmen sind es inzwischen. Niemals waren wir so ausgepowert, so knochenmüde. Unsere Reserven sind aufgebraucht, unsere Leistungsfähigkeit nun im Herbst drastisch reduziert. Trotzdem sind wir uns bewusst, dass in vielen Pflegestellen noch sehr viel mehr Mauersegler und Alpensegler warten, deren Pfleger darauf vertrauen, dass wir ihren Schutzbefohlenen zu neuen Federn und zur Freiheit verhelfen.

Wir wissen, dass rein rechnerisch diese Gleichung nicht aufgehen wird. Zu viele Segler, zu wenig Zeit, - keine Chance, alle zu retten. Doch was uns möglich ist, das tun wir. Ein Vogel nach dem anderen. Bloß mit dem Wachbleiben gibt’s ernsthafte Probleme. Unser Kühlschrank ist vollgestopft mit unzähligen bunten Dosen einer nach einem roten Hornvieh benannten Hallo-Wach-Brause. Unser Kaffeekonsum liegt im toxischen Bereich. Schade, dass wir weder das eine noch das andere auf unsere Amazon-Wunschliste setzen können. Die bleibt den unmittelbaren Bedürfnissen rund um die Mauersegler vorbehalten.

 

In der hübschen Souterrainbox direkt vor meinem Fütterungsplatz kaspert Henry herum. Zwei Boxen weiter sitzt Quanah in der Ecke und starrt mich in Grund und Boden. Man erwartet meine Aufmerksamkeit. Was bedeutet, dass ich das Schreiben jetzt sein lassen und flott herüberkommen soll, um den Herrschaften heraus aus der Box und hinauf auf meine Schulter zu verhelfen, wo sie ein bisschen herumturnen und sich erleichtern möchten. Ich lehne das kategorisch ab, schon weil ich nicht ständig Pullover waschen will. Allerdings gilt mein Wille wenig in diesem Haus. Henry ist etwas verwöhnt und Quanah äußerst sensibel. Ich gebe nach – des Seglers Wille ist sein Himmelreich. Für alles andere gibt es die Waschmaschine.

Buchenstraße 9
D-65933 Frankfurt

Tel.:+49(69)35 35 15 04
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