Ich werfe gerade im Dauerlauf Klamotten und Equipment in den Koffer und packe die Vogeltasche (gegen eine Mauerseglerverfrachtung ist ein Wochenendtrip mit einer 12köpfigen Großfamilie der reinste Witz!), als Andreas Email eintrifft: „Wir haben Calima. Ich mache mir ernsthaft Sorgen ob wir die Vögel starten können. Am besten wäre es, Du würdest die Reise auf Montag verschieben …“ Zugegeben, über den Temperatursprung auf Fuerteventura von 23°C auf 37°C habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Doch es ist ein Uhr früh, und in zwei Stunden muss ich am Flughafen sein. Canceln? Unmöglich. „Kinners, ihr seid Afrikaner!“, knurre ich, als ich im geisterhaften Schein der Stirnlampe meine 15 startbereiten Mauersegler wecke und in der Transportbox versenke, „Dann mal los – uns erwartet ein Wüstensturm!“ Schriller Protest. Nicht gegen Afrika und Wüstensturm, sondern dagegen, zu gotteslästerlicher Zeit in empörender Enge mit lauter Artgenossen zusammengepfercht zu werden, die man jetzt gerade gar nicht leiden kann. Das kann ja heiter werden. Schimpfend schleppe ich die Box nach draußen, die „screaming party“ hallt durch's Treppenhaus. Im dunklen Auto wird man endlich ruhiger und sortiert sich. Ab und zu zischt es verärgert aus der Box, wenn einer dem anderen auf den Flügel tritt. Bei der Reisebewertung werden wir eindeutig nicht gut wegkommen!
Während des viereinhalbstündigen Fluges fügen sich die künftigen Himmelsstürmer ins Unvermeidliche und halten Ruhe. Ich versuche dösend zwei durchwachte Nächte nachzuholen. Landeanflug! Kurz über dem Boden erwischt uns der Calima voll von der Seite, die Maschine startet noch einmal durch und landet nach einer großen Schleife schließlich sauber auf dem Flughafen von Fuerteventura. Draußen der reinste Backofen, und das schon um neun Uhr früh! Innerlich stöhnend transportiere ich Vögel, Koffer, Handgepäck und sonstigen Klimbim zum Mietwagen und mache mich auf den Weg nach Tindaya. Ich treffe mich mit Andrea und Pancho am Ortsrand, um mein Equipment zu übernehmen, denn die Apartements auf der Finca sind belegt, und ich habe diesmal in El Cotillo gebucht. Der Calima tobt so heftig, dass ich kaum die Autotür öffnen kann. „Geht das den ganzen Tag über so?“, versuche ich mir gegen die Sturmböen Gehör zu verschaffen und frage mich angstvoll, wie wir dann wohl starten sollen. Andrea meint, am späten Nachmittag lasse es nach. Plan B muss her: Abendstart! Wir verabreden uns für den kommenden Tag um 17 Uhr am Startplatz.
Nachdem ich mein Quartier in El Cotillo gefunden habe, verfrachte ich den gesamten mitgebrachten Hausstand nach drinnen, richte die Vogelboxen ein, befreie endlich meine armen eingesperrten Mauersegler und beginne mit der ersten Fütterung. Brütende Hitze, mir rinnt der Schweiß. Meine geflügelten Afrikaner zeigen sich wenig beeindruckt, sie haben das Wüstenklima wohl in den Genen. Ich hingegen stamme von Wikingern ab und bin eher auf Eiswüste programmiert. Während die Segler sich behaglich schütteln und sich emsig zu putzen beginnen, wird meine Leidensfähigkeit auf eine harte Probe gestellt. Auch abends kühlt es kaum ab, die Nacht verbringe ich bei lauschigen 30°C. Die Heimatfront meldet per SMS zwei neue Segler, einen kleinen Napoleone aus Korsika und einen noch namenlosen Innsbrucker. „Nennt ihn Calima …“, tippe ich mit klebrigen Fingern ins Handy.
Am darauffolgenden Tag steigt mein Bedarf an kalten Duschen und geeisten Getränken in gleichem Maße wie die Geduld der Segler abnimmt: Sie wollen jetzt endlich fliegen! Nach vier ausgiebigen Fütterungsrunden brechen wir auf zum Startplatz. Andrea und Pancho erwarten uns schon. Und – der Sturm ist tatsächlich zu einem lauen Wind abgeflaut! Unsere Segler werden in einen wunderschönen Abend hinein starten!
Wir sind ein perfekt eingespieltes Team, schnell sind die Positionen bezogen, jeder hat seinen Startzettel parat, auf dem 15 Namen für 15 ergreifende Schicksale stehen. Ich hebe beide Hände: in der linken die windschnittige Caitlin, aus Darmstadt stammend und schnell wie ein Pfeil, und rechts Amparo aus Duisburg, klein, dunkel und immer etwas grimmig. Kurz nacheinander schießen beide davon und treffen sich über uns. Ein guter Anfang! Der ätherische Spirit aus Heidelberg folgt, aus dem halbverhungerten Gespenst von einst ist ein flitziger Jungsegler geworden! Dali, freundlich und von sonnigem Gemüt, wurde uns aus Nürnberg gebracht. Jauchzend schwingt er sich empor. Der nächste ist sein behäbiger Freund Ambrose, aus dem Tierheim Mainz. Keine Spur mehr von Behäbigkeit! Der zierliche Gregory, ebenfalls aus Duisburg, beweist einmal mehr, dass man nicht groß sein muss, um Spitzenleistungen abzuliefern, und steigt empor wie eine kleine Rakete. Konradin aus Essen, unbändigbar, wild und zielstrebig, hat in den vergangenen Wochen unablässig gekämpft. Als er zu uns kam, lahmte er stark, und es schien keine Hoffnung zu geben. Im Training gab Konradin alles, und außerhalb der Trainingsstunden tobte er in der Box. Was soll ich sagen – er hat es geschafft! Mit unermüdlichen und letztlich einwandfreien Runden im Trainingszimmer gewann er sein Flugticket. Und heute erobert er den Himmel!
Die zweite Gruppe wird von einem Paar überragender Superflieger angeführt: die tollkühne Rumänin Sigrid (die zusammen mit 28 Artgenossen und zwei ganz lieben Freunden bei uns eintraf) und die schöne Österreicherin Maliki (der einzige Mauersegler bisher, der 2,7 kg original Manner-Waffeln und zwei Flaschen Rosé-Sekt mitbrachte … oh bitte, MEHR Österreicher!!!). Sigrid und Maliki schenken uns ein wundervolles Schauspiel in der Höhe, mir wird ganz schwindlig. Ginevra aus Oberursel, scheu und schwer traumatisiert, wurde im Kükenalter mitsamt Bruder und Nest bei Bauarbeiten vom Dach rücksichtslos in den Garten geworfen und dort ihrem Schicksal überlassen. Erst nach zwei Tagen wurden sie gerettet. Während ihr Bruder Artus schon früher flog, brauchte Ginevra lange, um ihre Verletzungen auszuheilen. Sie heute als starken und gesunden Vogel starten sehen zu dürfen, treibt mir Tränen in die Augen. Ebenso bei Elias aus Hanau, eines der zahllosen Opfer von Stangulationen mit fadenförmigem Nistmaterial. Der tapfere kleine Segler hatte sich unrettbar im Nest verwickelt. In letzter Minute wurde er gerettet, doch sein rechtes Bein war komplett abgeschnürt und musste amputiert werden. Wieder und wieder dreht Elias Runden hoch über mir, es ist ein unvergleichliches Dankeschön!
Lange hat die zarte, unbezähmbare Tessa aus Frankfurt-Schwanheim auf ihre große Stunde gewartet und uns mit so manchem Ausbruchsversuch auf Trab gehalten. Als sie nun über die Bergkuppe hinwegstiebt, ist alle Mühsal vergessen beim Anblick eines weiteren glücklichen Seglers. Auch der unternehmungslustige, vorwitzige Feivel aus Frankfurt-Sachsenhausen hat nie aufgegeben und sich mit seinem Teufelstemperament auf die Startliste katapultiert – und nun in die unendlichen Weiten von Fuerteventura!
Den Abschluss bilden, kompakt und schwergewichtig, Aurelius aus Nidderau, der letzte unserer römischen Kaiser, und der ansehnliche Kennedy aus Berlin („Ich bin ein Berliner!“), der mit durch Klebeband ruinierten Schwungfedern bei uns ankam. Sie springen gemeinsam ab, ziehen nach links und nach rechts einen herzförmigen Bogen und treffen sich dann wieder, um zusammen in die Höhe zu steigen: eine traumhafte Performance im Angesicht des erhabenen Montana de Tindaya!
Und dann sind alle davon. Nach Osten hinüber – Richtung Afrika! Keiner von ihnen wird mit dem Calima auch nur die geringsten Probleme habem. Ich bin wie betäubt: Es ging so schnell! Operation Wüstensturm ist erfolgreich abgeschlossen. Andrea steigt zu mir herunter, „War das alles?“, und wir fallen uns lachend in die Arme. Pancho kommt gestikulierend von der anderen Seite und erläutert uns Feivels Flugbahn, denn der ist ins Tal eingetaucht, wo ich ihn aus den Augen verloren habe. Alles ist wie immer, nur viel schöner, und den Sekt haben wir wie üblich vergessen, was bei der Hitze vielleicht auch besser ist. Wir sind uns absolut einig, dass wir kaum je einen so wunderbaren Start erlebt haben! Noch ein Weilchen reden und schwärmen wir, dann verabschieden wir uns, aber frohen Mutes. Denn schon bald – ganz, ganz bald! - werden wir uns wiedersehen! Mit den nächsten 15 Superfliegern.
Hasta pronto!