Es sind die ungeduldigen Spätlinge, die notorischen Leichtgewichte, die Ausbrecherkönige und vielgeliebten Kotzbrocken, die wir am Morgen des 4. November aufatmend in der engen Reisebox verstauen: Die wilden Rumänen Elora, Elen, Alannia und Ilaria, der Vorjährige Jacques, die Geschwister Minnie und Finnegan, Attila die Geißel Gottes, Cari unsere Jüngste, Fabricius, Dustin und Semai. Endlich, endlich auf in die Freiheit!
Am Flughafen das übliche Procedere: Dokumente vorzeigen, Vögel umsetzen damit die Reisebox durchleuchtet werden kann, schwitzen dass bloß keiner abhaut, tausend Leuten erklären was man hier gerade macht und warum, Vögel wieder zurücksetzen, Krempel zusammenpacken und ab um die Ecke, erstmal verschnaufen.
Später im Flieger entspannt zurücklehnen, die Reisebox ist unter dem Sitz verstaut, dösend auf den Start warten. 13.15 Uhr soll es losgehen. Durchsage des Kapitäns. „… technische Probleme … Ersatzmaschine … alle wieder in die Busse … mit diesem Flugzeug können wir nicht fliegen …“ Hahaha, guter Joke, wusste gar nicht dass die bei TUI auch Sinn für Humor haben, die Ulknudeln arbeiten eigentlich alle bei SunExpress … Erst wird gelacht. Dann macht sich Unruhe breit. Er meint es ernst. Er meint es tatsächlich ernst!
Fassungslos starre ich aus dem Fenster. Indigniert dreinblickende Leute mit Warnwesten und Smartphones am Ohr marschieren auf und ab. Drei Busse rücken an, warten eine gefühlte Ewigkeit und rücken wieder ab. Neue Ansage aus dem Cockpit: Leider steht doch keine Ersatzmaschine zur Verfügung. Unsere Maschine soll repariert werden. Voraussichtliche Dauer 3-4 Stunden …
12 leichtgewichtige Segler 3-4 Stunden länger unversorgt in einer engen Box!? Ich will hier raus, sofort. Zurück in die Klinik und füttern. Wenn die Warnwesten-und-Smartphone-Typen, die sich unten wie durch Knospung vermehren, 3-4 Stunden reparieren, kann ich weg zum Füttern.
Kann ich nicht. Bevor die Busse zurückkehren und ich überhaupt nur aus dem Flugzeug komme, vergeht eine weitere ¾ Stunde. Die Gemeinde wird wieder zum Terminal gekarrt, trabt die Treppen hoch, kommt ratlos zum Stillstand. Niemand da, der sagt was nun passieren soll! Am Gate ist keiner zuständig. Man ist Subunternehmer, nicht TUI selbst. Oder man ist Praktikantin und der Chef telefoniert gerade. Kommt aufs selbe raus. Ich breche aus und marschiere mitsamt meinen Vögeln zum Check-In zurück. Gähnende Leere. Geradezu ein Schwarzes Loch. Ich suche und finde einen TUI-Schalter. Dort weiß man noch gar nichts von dem Vorfall. Moderne Kommunikation eben. „Haben Sie eine Pauschalreise gebucht?“ Nö, hab ich ganz sicher nicht. „Dann sind wir nicht zuständig.“ Aha, gut zu wissen. Wer dann? „Am besten wenden Sie sich an TUIfly direkt.“ Witzig. Hilft mir jetzt wirklich weiter. Den Flughafen verlassen? Klar, warum nicht. „Aber wenn die Reparatur schneller beendet ist und Sie den Flug verpassen, verfällt Ihr Ticket!“
Es ist ein sehr teures Ticket … Das kann ich nicht riskieren. In wachsender Verzweiflung schlurfe ich zur Kontrolle zurück. Leider haben die Beamten inzwischen gewechselt. Also die ganze Prozedur noch einmal … Die Segler sind genervt und aufgemischt, quirlen durcheinander, und langsam werden sie auch hungrig und durstig. Ich verpacke sie bekümmert wieder in der engen Reisebox, - da winkt mich eine strahlend lächelnde Flughafenmitarbeiterin heraus: „Stichprobe – Sprengstofftest!“
Mit „Ommm“ komme ich nicht mehr weiter. Während die Proben genommen werden, lasse ich die Dame beredt an der Misere meiner armen Mauersegler teilhaben, und es tut ihr sichtlich leid, ausgerechnet mich rausgewunken zu haben. Das niederträchtige Gerät spuckt ein positives Sprengstoffergebnis aus. Nun kann ich meine Geschichte vor diversen herbeieilenden Polizisten und Zollbeamten wiederholen, die unauffällig einen Halbkreis um mich bilden, meine Dokumente begutachten und beratschlagen, was zu tun sei. Sie spähen nacheinander in die Reisebox, und ich überlege, ob ich wohl verhaftet werde, wenn Finnegan oder Minnie ihnen plötzlich wie kleine Kasterlteuferl ins Gesicht springen. Schließlich kommt man zu dem Schluss, dass die Ausscheidungen der Vögel für das positive Ergebnis verantwortlich sein müssen. Das hat chemische Gründe, an die ich mich in meiner momentanen geistigen Verfassung nicht mehr erinnern kann.
Ich wanke zurück ans Gate. Dort wurde die Gemeinde inzwischen mit Verzehrgutscheinen in Höhe von stolzen 7,50 Euro für die 3-4 Stunden Wartezeit fürstlich entschädigt. Die Gemeinde verbringt diese 3-4 Stunden Wartezeit damit, gottergeben beim einzigen Lokal anzustehen, in dem man die Gutscheine einlösen kann. Eigentlich könnten wir jetzt anfangen „Hare Krishna“ zu singen. Ich verzichte. Die Segler brauchen unbedingt etwas Wasser! Leider befindet sich mein gesamtes Equipment im aufgegebenen Gepäck (einschließlich der tiefgefrorenen Grillen … wie lange halten wohl die Tiefkühl-Akkus?).
Eine reizende Angestellte des Duty-Free-Shops erbarmt sich meiner Vögel, eilt nach draußen zur Apotheke und ersteht eine Spritze für uns. Ich bastele durch einen schmalen Schlitz ein paar Wassertropfen an jeden erreichbaren Schnabel. Die Box weiter zu öffnen wage ich nicht, auch ich bin nicht scharf auf springende Kasterlteuferl, und irgendwie ist dieser Tag prädestiniert für Katastrophen.
Man glaubt es nicht, 15.45 Uhr und unser Flug wird aufgerufen! Abermals trifft sich die psalmodierende Gemeinde am Gate, im Warteraum, in den Bussen und schließlich im reparierten Flugzeug wieder. Das Ganze hat etwas von Déjà-vu. Bloß dass jetzt jeder misstrauisch die linke Turbine beäugt. Start 17.00 Uhr - und wenige Minuten später ein Feueralarm!! Es ist was dran an dem Spruch „einem gefriert das Blut in den Adern …“ Die Pappnase, die sich im Waschraum eine Zigarette angezündet hat, gehört gelyncht! Aber dafür sind wir inzwischen viel zu erschöpft.
Ohne nennenswerte Zwischenfälle geht es nun in Richtung Süden. Die 12 Mauersegler haben es endgültig satt, eingepfercht zu sein, und veranstalten eine unüberhörbare „screaming party“, in der sich bittere Klagen mit übelsten Schimpfwörtern mischen. Ich rutsche in meinem Sitz immer tiefer, doch zum Glück ist die umgebende Gemeinde von all den Wechselfällen des heutigen Tages so abgestumpft, dass sie keinerlei Notiz von den schrillen Beschwerden aus dem Fußraum nimmt. Landung auf Fuerteventura um 19.45 Uhr Ortszeit (bei uns ist es 1 h später). Schwülwarme 20°C. Schweinsgalopp zum Mietwagenschalter, - wo schon ungefähr 47 Leute warten … Nun, der Tag ist noch nicht zuende, und schlimmer geht immer! Bis ich den Autoschlüssel habe, zieht mein monströser Überseekoffer einsame Runden auf dem Gepäckband, und die Halle ist wie ausgestorben. Ich schleppe Gepäck, Vögel und mich selbst hoch zum Parkplatz. Wo ist der Wagen? CICAR-Parkplatz 101 existiert nicht. Endlose Runden später entdecke ich das Gefährt auf einem AVIS-Parkplatz. Wo auch sonst. Ich wuchte den Schrankkoffer ins Auto, erzähle den Vögeln in monotonen Litaneien, wie leid mir das alles tut, und ab die Post. Dass ich bei dem Rumgekurve meinen Lieblingspullover verloren habe, merke ich erst 3 Tage später, und er taucht auch nie wieder auf.
Im Quartier angekommen (22.00 Uhr inzwischen!) wird in fieberhafter Eile alles eingerichtet und mit der allzu späten Fütterung begonnen. 12 Stunden sind die Tiere nun unversorgt! Ungeachtet meines eigenen knurrenden Magens (noch länger unversorgt) zerfließe ich in Schuldgefühlen, und es bekommt meinen Nerven nicht gut, als Attila und Elora mir sämtliche Grillen gleich wieder ostentativ vor die Füße spucken. Sozusagen aus Trotz. Wir brauchen ein bisschen Zeit, um uns zu einigen. Die Segler tolerieren gerade noch zwei Mahlzeiten, und dann rien ne vas plus. Es ist einfach zu spät. Nach soviel Stress sind Ruhe und Schlaf wichtiger als weitere Grillen!
Leider ist es bereits so spät, dass kein Laden mehr offen hat, und es ist absolut nichts zu essen im Haus. Damit mein lautstark knurrender Magen die Segler nicht weckt, schleiche ich mich raus. Ich fahre nach El Cotillo, in Tommy‘s Schweizer Pub. Auf Tommy ist Verlass. Es braucht keine großen Erklärungen. Er schiebt mir ein frisch gezapftes Pils hin, zaubert in der Küche einen dicken veganen Gemüse-Rösti und packt ihn ein. „Hast was zu trinken daheim?“ Der Rösti riecht toll. „Ich glaub da ist noch Tee...“, konstatiere ich trübsinnig. Tommy lässt wortlos eine Dose Bier in die Tüte plumpsen, reicht sie mir und wünscht eine gute Nacht.
Ich schlafe dann auch ganz super ein. Frühmorgens allerdings große Unruhe in den beiden Seglerboxen, die auf dem Regal neben dem Fenster stehen. Gekreische, Geflatter und Geschabe, bis ich mich aus dem Bett quäle und nachsehe. Mich trifft der Schlag. In den Boxen wimmeln 251.913 Ameisen. Minnie und Finnegan sowie Attila und Fabricius haben sich vor der Invasion entsetzt auf ihre Sofas geflüchtet. Nichts gegen Ameisen, ich mag Ameisen, - aber das ist zuviel!! Ich schüttele meine Segler aus und rette sie in die Reisebox. Die Ameisenhotels fliegen achtkantig raus auf die Terrasse. Als ich Stunden später nachschaue, sind sie zu einem wahren Ameisen-Mekka geworden. Auf mehreren Highways strömen die Gläubigen aus der gesamten Umgebung herbei. Ähnlich den Sprengstoff-Experten am Flughafen, bloß zahlreicher, sind die Ameisen höchst interessiert an den Kothäufchen der Segler. Wohl bekomm‘s.
Wir ackern uns durch das erste, zweite und dritte Frühstück. Dann kommen meine 12 Musketiere und ich überein, dass ein baldiger Start im Interesse aller Beteiligten ist. Das am gestrigen Tag möglicherweise eingebüßte Gewicht holen sie wohl eher auf, wenn sie selbst Moskitos fangen, als wenn ich sie weiter mit Grillen nerve.
Wir warten eine dunkelgraue Wolke ab, die sich gerade mit sintflutartigem Regen über uns entlädt. Ringsum Sonne und blauer Himmel. Dann ziehe ich mit den vier Rumänen und dem vorjährigen Segler Jacques hinaus auf die kleine Anhöhe hinter der Finca. Heute habe ich zwar keine Startmannschaft, aber die besten Flieger der Klinik dabei! Ich wage den Start allein. Was so desaströs begonnen hat, muss doch wohl ein gutes Ende finden!
Muss es? Voller Argwohn suche ich den Himmel, die umliegenden Hänge, Hausdächer und Bäume nach ungebetenen Besuchern mit scharfen Krallen und gebogenen Schnäbeln ab. Gottlob ist nichts und niemand zu sehen. Gleichwohl sterbe ich tausend Tode, als ich das erste Paar starte: Elora und Elen! Uff, wunderbar! Alannia und Ilaria folgen, ebenso schön und souverän! Wenigstens Jacques, cool und richtig erwachsen, dreht noch eine Abschiedsrunde über mir. Ich hole die zweite Gruppe. Minnie und Finnegan stieben davon wie Raketen (war wohl doch was dran mit dem positiven Sprengstoff-Test). Dem kleinen heimtückischen Attila winke ich besonders inbrünstig hinterher. Er hinterlässt Rauchwolken wie Speedy Gonzales. Ich bin mir ziemlich sicher, eine Stinkekralle gesehen zu haben… Fabricius hat sowas nicht nötig. Pfeilschnell und nichts wie weg. Cari sackt erstmal durch und zieht dann gemächlich hoch. In der Ruhe liegt die Kraft. Dustin würdigt mich keines Blickes, dem hab ich einmal zu oft unter den Flügel geschaut. Darf ich nun ein letztes Mal – von weit unten! Auch der kräftige Semai hält nichts von übertriebenen Gefühlsäußerungen. Ein letzter funkelnder Blick, und dann dauert es nur wenige Sekunden, bis er am fernen Horizont verschwunden ist.
Und das war‘s dann. Alle weg, vom Winde verweht … Nein, diese Zwölf beherrschen den Wind! Jeder einzelne ist genauso, wie ein Mauersegler sein soll: wild, vital, temperamentvoll, unbändigbar, freiheitsliebend und selbstbestimmt. Und ich bin einfach nur glücklich, dass sie nun endlich frei sind und ihr Leben unter die eigenen Flügel nehmen können!